Empathie als oberstes Erziehungsziel

Empathie als oberstes Erziehungsziel

Ralf Kennis, Februar 2017

 

Empathie und Mitgefühl

Duden: englisch empathy (unter Einfluss von deutsch Einfühlung) < spätgriechisch empátheia = Leidenschaft. Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen

Brockhaus: [engl. empathy aus grch.], die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. In der Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft wird mit E. die Entwicklung der Vorstellung bezeichnet, die sich die Kommunikatoren von den Interessen ihres Publikums machen.[1]

Badea bezeichnet Empathie als eine Fähigkeit, die in nahezu allen Lebensbereichen entscheidend für den Erfolg ist. Menschen und vor allem Führungskräfte mit besonders ausgeprägten empathischen Fähigkeiten haben bessere persönliche Beziehungen, können sich selbst und andere stärker motivieren; sie lernen schneller und genießen ein größeres Vertrauen.[2]

In der Psychotherapie bezeichnet der Begriff Empathie eine Strategie der Stimmungsübertragung vom Patienten auf den Therapeuten.

In der Wirtschaft gilt die E. als wesentlicher Bestandteil der Führungskompetenz. „Im Marketing, insbesondere beim persönlichen Verkauf und bei der Vermarktung wissens- und technologieintensiver Produkte und Dienstleistungen, kommt es darauf an, dass die betreffenden Mitarbeiter sich sehr gut in die Gedanken- und Gefühlswelt des Kunden hineinversetzen und das Angebot möglichst passend auf seine – oft unausgesprochenen – Motive und Wünsche ausrichten können. Empathie ist somit eine wesentliche Voraussetzung für die effiziente Gestaltung des Vertriebsprozesses und besonders wichtig bei der Entwicklung der Vertriebskompetenzen.[3]

Der Volksmund hat für E. verschiedene Sprichwörter: Sich in die Haut des Anderen versetzen, sich die andere Meinung zu eigen machen, in das Kleid des anderen schlüpfen, usw.

„Unter E. im engeren Sinn verstehen wir die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu teilen. Wenn mir ein Freund etwas Trauriges erzählt, das ihm passiert ist, kann mich das auch traurig machen: Ich teile sein Gefühl.“[4] Das Teilen des Leids anderer kann in manchen Berufen (Helferberufe, z.B. in der Alten- oder Krankenpflege) zu einem empathischen Stress führen. Damit ist gemeint, dass das Einlassen auf das Leid anderer ein ‚Zuviel‘ an eigenem Leiden und damit eine Überlastung mit sich bringen kann.“[5] Die Psychotherapie kennt die „Compassion Focused Therapy“. Hier wird das Mitgefühl gestärkt.

Die Empathieforschung unterscheidet zwischen Empathie und Mitgefühl (En: Compassion). Mitgefühl meint, „für eine andere Person ein positives Gefühl zu entwickeln. Wenn ich die Traurigkeit meines Freundes teile, kann ich dazu auch positive Gefühle liebevoller Güte, Wärme, Besorgnis für ihn empfinden. Diese Gefühle sind dann nicht mehr die gleichen, die er empfindet. Sie gehen über die geteilte Traurigkeit hinaus (…) und sind für mich selbst aufbauend.“[6] Ich kann, „auch wenn es dem anderen nicht so gut geht, für ihn dennoch ein Gefühl der Besorgnis und Liebe haben, muss mich also nicht abgrenzen, um das Leid nicht mehr teilen zu müssen, und kann weiterhin zugewandt bleiben.“

Schauen wir auf den Lehrer- Erzieherberuf, so ist wahrscheinlich diese Form der Zuwendung am geeignetsten im Umgang mit Heranwachsenden. In anderen Situationen, beispielsweise bei Konfliktstrategien in der Pubertät oder in der Frage der Mediennutzung, ist nicht in erster Linie der Umgang mit Gefühlen gefragt, sondern die Fähigkeit, sich intellektuell mit dem Phänomen der Pubertät bzw. des sinnvollen Einsatzes der Medien  auseinander zu setzen. An dieser Stelle ist die Theorie des Geistes („Mentalisierung“ bzw. „Theory of mind“) hilfreich, was auch als Perspektivübernahme bezeichnet werden kann. In der Politik (Diplomatie), in der Ökumene aber auch in der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, Ansichten und Weltanschauungen ist diese Fähigkeit gefragt, wenn es darum geht, einen gemeinsamen Nenner zu finden, um eine Eskalation von Konflikten zu vermeiden. „Sich in die Haut des anderen“ zu begeben und auszuloten, ob und inwieweit der eigene Standpunkt von der anderen Seite verstanden und akzeptiert werden kann, ist eine Kunst, Konflikte zu vermeiden bzw. zu minimieren. Dazu ist es manchmal notwendig, die Perspektive des anderen einzunehmen und eigene Ansichten vorerst zurückzustellen. Erst wenn der andere sich verstanden fühlt, ist auch er in der Lage, meine Gedanken aufzunehmen und evtl. zu akzeptieren. Das Beharren auf der eigenen Meinung führt eher zu Blockaden bei der anderen Seite.

Die erwähnten sozialen Fertigkeiten sind bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Sie sind jedoch erlernbar bzw. können trainiert werden.

Zur weiteren Vertiefung: Verbindet man das Wort Empathie mit Schule und Erziehung, findet man: Empathie als Erziehungsziel, Empathie im Klassenzimmer, Lehrer benötigen Empathie, Empathie lernen, usw.

 

Der Blick des Erziehers/der Erzieherin (die einfühlende Beziehung oder Empathie als Bildungsziel)

Es ist eine erzieherische Beziehung,  die zu einem Blick werden kann,  auf jede aufdringliche Geste von Zwang und Belehrung verzichtet, um in sich leer zu werden. Gerade dadurch kann  eben dieser annehmende Raum entstehen, der von Natur aus erzieherisch ist, der es also erlaubt, wie die Etymologie sagt, zu „“er-ziehen“, also heraus ziehen: ein Unterfangen, das nur dann möglich ist, wenn der Zu Erziehende frei dazu ist, sich darzustellen, zu vertrauen, Fragen zu stellen und sich selbst zu fragen, wenn er alle seine Fähigkeiten ausdrückt. Es handelt sich nicht um eine einfache Option der Toleranz, sondern um eine maßgebliche Grundhaltung, die Dialog ermöglicht, Problemstellungen, Vorschläge, aber auch Kritik und die nötige Korrektur, jenseits einfacher Formen von Gewähren lassen.

„Die Realität ist der Ausgangspunkt der Erziehung. Das beinhaltet die Beobachtung, die Kenntnis der einzigartigen und immer neuen menschlichen Realität, mit der man es zu tun hat. Jedes menschliche Wesen, jede Umgebung und jede Situation (Lage, Umstand) ist einzig.“[7]

Die Sichtweise des Erziehers ist nicht nur der Blick eines „Beobachters“ (beschreibender Blick, kalt und desinteressiert); er ist auch kein „Betrachter“ (der von weitem beobachtet, abstrakt und allgemein). Es handelt sich dagegen um einen Blick, der in der Lage ist, die Einzigartigkeit, die Größe jedes Einzelnen [Lenzen bezeichnet das als „die Befindlichkeit jedes Einzelnen“] und die Komplexität des Erziehungsvorgangs selbst zu erfassen, eine Einstellung (Blick), die „Beziehung“ ist, denn der Erzieher  zeigt Interesse mit aufmerksamer Fürsorge.“

„Wer mit Kindern zu tun hat, benötigt einen pädagogischen Blick“ sagt Lenzen. Er nennt diesen Blick auch „Sensibilität für Situationen und für andere Menschen“[8], auch „pädagogisches Verständnis“ oder „soziales Wahrnehmungsvermögen“ und fügt hinzu, dass dieser Blick erlernbar sei und ein Merkmal der Professionalität des Erziehers sei.[9]

Je bewußter sich der Erzieher ist, wie wichtig die  Personalisazion  (Persönlichkeitswerdung) ist, durch welche „das Individuum, der Einzelne Bedeutung erlangt, und gleichzeitig die ethische Konzeption des Menschen und der Gesellschaft“ am deutlichsten zum Vorschein kommt, desto eher gewinnen die oben genannten sozialen Fähigkeiten auch an Bedeutung. Allgemeiner gesehen ist die Personalisation also „vor allem ein moralischer Aufruf, der uns dazu bringt, alle Kräfte zu sammeln, um auf die effizienteste Weise den Personen jene Dienste zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen“.[10]

Diese Haltung dem anderen gegenüber und diese Art Beziehung zu gestalten bedeuten daher eine Erneuerung  der eigenen „Berufung“ des Erziehers, dessen eigentlicher Auftrag im höchsten Dienst am Menschen besteht. Dieser Dienst ist umso wirkungsvoller, je mehr der Erzieher selbst davon überzeugt ist, „ dass die konstruktive Kraft des Lernenden aus seinen aktiven und positiven inneren Energien herauswachsen muss“.

Allgemeiner gesehen definiert Chiara Lubich das „Sich Eins  Machen“  als ein möglichst tiefes Eintreten in die Seele des anderen,  um seine Probleme und Bedürfnisse wirklich zu verstehen; sich voll beladen mit seinen Sorgen, seine Nöte und Leiden aufnehmen, „ohne jegliche Ungeduld“, „leer von sich selbst“, „ auf den anderen hoffend, auf den Sieg des Guten, der Gerechtigkeit und der Wahrheit“.

„(…) nicht nur die Wissensinhalte verdienen eine Überprüfung auf gezielte Empathieschulung. Auch in der Didaktik (also der Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens) bedarf es eines Umdenkens. So ergänzt und festigt die einfühlende Beziehung zwischen Lehrpersonal und Schülern die vermittelten Inhalte auf einer formal-theoretischen Ebene.[11]

Deshalb der Aufruf an Politik und Entscheidungsträger im Bildungsbereich:
Im didaktischen Dreieck Lehrer – Schüler – Lehrinhalt muss Empathie neu verortet und nachhaltig verankert werden. Eine Bildungssozialisation, in der bereits Kleinstkinder auf Konkurrenz und Leistung gedrillt werden, hinterlässt erheblichen Schaden in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, der sich ein Leben lang auswirken kann.“[12]

 

[1] D.K. Berlo: The process of communication (N.Y. 1960).

[2] Leonardo Badea: The role of empathy in developing the leader’s emotional intelligence. In: Theoretical and Applied Economics, Vol. 17 (2010), No. 10, S. 69–78

[3] Philip Kotler und Kevin Lane Keller, Marketing Management, Upper Saddle River, 2009, S. 360 ff.

[4] Kanske, Philipp: In der Haut des anderen, in: Neue Stadt, Dezember 2016, S. 5

[5] Kanske, a.a.O., S. 6

[6] Kanske, a.a.O.

[7] http://www.eduforunity.org/studi-progetti-esperienze/relazioni/40-relazioni-di-congressi/dalla-frammentazione-allunita/49-dalla-frammentazione-allunita.html, Pädagogik auf dem Weg von der Fragmentierung zur Einheit,  Rom im Mai 2004 (Übersetzung des Autors)

[8] Lenzen, Dieter: Orientierung Erziehungswissenschaft, Was sie kann, was sie will, Rowohlt, Reinbeck 1999, S. 15ff

[9] Lenzen, a.a.O., s. 17

[10] eduforunity.org, a.a.O.

[11] http://www.das-empathische-gehirn.de/blog/die-neue-bildungsstarre-oder-empathie-als-erziehungsziel-und-stil/

[12] a.a.O.

 

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