Lernen beginnt mit dem Zeigefinger
Noch bevor das Kleinkind zu sprechen beginnt, lernt es durch die Beziehung mit Bezugspersonen, durch Kommunikation.
Tomasello (Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig), Verhaltensforscher, veröffentlichte einige bemerkenswerte Forschungen (Habermas nennt sie „ingeniös“ und „bahnbrechend“) über „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“. Er bewies in Versuchen mit Kleinkindern schlüssig: „Erst die Verbindung von Kognition und Kommunikation würde für die Beteiligten (Mutter und Neugeborenes) die intersubjektiv geteilte Welt konstituieren, worin diese sich miteinander über etwas verständigen können.“ Die Errungenschaft des Homo Sapiens bestehe in der komplexen Fähigkeit, sich auf einen Artgenossen so einzustellen, dass beide in der Gesten vermittelnden Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten (das der Sprache noch nicht fähige Kleinkind zeigt auf einen Gegenstand, ist also bereits in der Lage, im Gegensatz zum Tier eine interpersonale Beziehung herzustellen) dieselben Ziele verfolgen, also kooperieren können. Diese Aussage kann man so verstehen, dass der Erwerb von Wissen über ein Objekt, also die Kognition, die Erkenntnis, in Verbindung mit der Kommunikation beim Menschen (durch die Kultur), also durch die intersubjektive Beziehung noch vor dem Gebrauch der Sprache möglich wird. Beim Tier ist diese intentionale Beziehungsaufnahme zum anderen nicht möglich. Die Basis unserer menschlichen Kultur wird im Kleinkindalter gelegt durch die Beziehung in erster Linie zur Mutter, durch die Zeigegeste vor dem Sprachgebrauch. Dadurch wird die für den Menschen charakteristische „extended mind“, die erst Intelligenz ausmacht, gebildet.[1] Habermas kommentiert, dass die evolutionäre Geschichte etwas anders erzählt werden müsste „wenn man davon ausgeht, dass für die ursprüngliche kommunikative Verwendung von Gesten kein anspruchsvolles rekursives Erkennen nötig ist. (…) Nach dieser Lesart wären es die anfänglichen Gesten selber, die die gemeinsame Aufmerksamkeit auf dasselbe Objekt lenken und ein gemeinsames Wissen von diesem stimulieren.“[2] Wissen und Kognition, Voraussetzungen für Bildung, deren Ursprünge auf Kommunikation basieren, und zwar vor dem Gebrauch der Sprache.
Frage: Ist nicht ein umdenken in der Pädagogik allein aufgrund dieser Erkenntnisse erforderlich? Der Mensch kann nur dadurch etwas erlernen bzw. Dinge wahrnehmen, erfassen, überhaupt denken, sich sprachlich artikulieren, weil er die Fähigkeit besitzt, Beziehungen einzugehen!?
Moran sagt: Das Soziale, die Beziehung steht am Anfang oder anders ausgedrückt: Zu allererst ist Beziehung da.[3] Wittgenstein und Putnam bekräftigen, dass Bedeutungen nichts sind, „was in einem einzelnen Kopf steckt“. Die soziale Komponente beim Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Lernprozess ist ein noch weitgehend unerforschtes Feld. Relationalität spielt nicht nur beim Erwerb von (Er-) Kenntnissen eine entcheidende Rolle, sondern auch bei deren Weitergabe. Unbestreitbar für die Weiterentwicklung in den modernen Wissenschaften ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dazu hier mehr in naher Zukunft.
[1] Definition aus Wikipedia: The „extended mind“ refers to an emerging concept that addresses the question as to the division point between the mind and the environment by promoting the view of active externalism. This view proposes that some objects in the external environment are utilized by the mind in such a way that the objects can be seen as extensions of the mind itself. Specifically, the mind is seen to encompass every level of the cognitive process, which will often include the use of environmental aids.
[2] Habermas, Jürgen: Es beginnt mit dem Zeigefinger, Zeit Online, 10.12.2009 Nr. 51, ADRESSE http://www.zeit.de/2009/51/Habermas-Tomasello.
[3] Eigene Notizen aus einem Vortrag von Jesus Moran, gehalten Anfang März 2011 in Castelgandolfo.