Zuhören

Zuhören

Aktives Zuhören ist anstrengend aber auch befreiend (s. Unten). Es verleiht dem Anderen Wert, gibt ihm das, was ihn ausmacht, seine Würde. Das Losgelöstsein von eigenen Ansichten und Vorstellungen ermöglicht beiden Gesprächspartner*innen einen neuen Zugang zum Anderen und zu dem Gesagten, eröffnet neue Horizonte. Das starre Beharren auf dem eigenen Standpunkt erzeugt dagegen Spannungen und kann zu Konflikten führen. Diese werden erst im gemeinsamen Verstehenwollen überwunden. Das „Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen“ ermöglicht Verständigung, das Gegenteil verhindert Zugänge und Lösungen. Beim aktiven Zuhören handelt es sich nicht um eine bloße Diplomatie, sondern um eine Haltung, die den Anderen zuerst akzeptiert. Wenn beide Seiten das beherrschen, können auch gegensätzliche Meinungen zu einem gemeinsamen Konsens führen, der beide überzeugt und nicht einen unbefriedigenden Kompromiss darstellt.
Die von Habermas als Utopie bezeichnete Diskursethik halte ich heute für bedeutender denn je. Diskurse leben vom Gegenüber „in Augenhöhe“. Habermas sah sie nur in der Diskussion zwischen Hochschullehrer*innen zu verwirklichen und das auch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Deshalb nannte er den Diskurs eine Utopie jedoch zeigt die Erfahrung, dass Menschen, die die genannten Hürden zu überwinden in der Lage sind, sehr wohl diskursfähig sind, obgleich sie nicht der Wissenschaftscommunity angehören.
„Das Zuhören ist kein passiver Akt. Eine besondere Aktivität zeichnet es aus. Ich muss zunächst den Anderen willkommen heißen, das heißt, den Anderen in seiner Andersheit bejahen. Dann schenke ich ihm Gehör. Zuhören ist ein Schenken, ein Geben, eine Gabe. Es verhilft dem Anderen erst zu sprechen. Es folgt nicht passiv der Rede des Anderen. (…) Das Zuhören lädt den Anderen zum Sprechen ein, befreit ihn zu seiner Andersheit. Der Zuhörer ist ein Resonanzraum, in dem der Andere sich freiredet. So kann das Zuhören heilend sein. (…) Die Sorge des Zuhörers gilt dem Anderen. (…) Das Zuhören hat eine politische Dimension. Es ist eine Handlung, eine aktive Teilnahme am Dasein des Anderen und auch an deren Leiden. Es verbindet, vermittelt Menschen erst zu einer Gemeinschaft. (…) Der politische Wille, einen öffentlichen Raum, eine Gemeinschaft des Zuhörens, die politische Zuhörerschaft zu bilden, schwindet radikal. (…) Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte dagegen eine Gesellschaft des Zuhörenden und Lauschenden heißen. Notwendig ist heute eine Zeitrevolution, die eine ganz andere Zeit beginnen lässt. Es gilt, die Zeit des Anderen wieder zu entdecken. (…) Im Gegensatz zur Zeit des Selbst, die uns isoliert und vereinzelt, stiftet die Zeit des Anderen eine Gemeinschaft. Sie ist daher eine gute Zeit.“ (Byung-Chul Han, 2016).
„Das größte Gehör gilt dabei den Armen, Ausgegrenzten und Opfern von (…) Missbrauch, die keinesfalls einfach Empfänger unserer „Barmherzigkeit“ sind. (Felix Genn, 2020)
Zuhören heißt, den Anderen verstehen wollen, die eigenen Gedanken und Ideen zurück zu stellen, dem Anderen zuzugestehen, dass auch er*sie etwas zu sagen hat, dass der*die Andere recht haben kann. Das impliziert, dass die eigenen Ansichten nicht absolut gesetzt werden können. Veränderung zulassen eröffnet ganz neue Perspektiven. „Resonanz ist das, was passiert, wenn zwei Stimmen einander hören und aufeinander so antworten, dass sie sich davon berühren lassen und sich dadurch verändern. (…) Indem sie sich eine ihnen vielleicht ganz fremde position zu eigen machen und sogar >anverwandeln< müssen, entdecken und reagieren die Schüler auf neue Perspektiven. Sie lernen sich und die Welt durch andere Augen neu und anders zu betrachten – und sie lernen, ihre Mitschüler argumentativ zu erreichen. Wo das gelingt, stellt sich Resonanz dann auf einer aufregenden, höheren Ebene ein: Die verhandelte Sache beginnt spannend und lebendig zu werden – und im Klassenzimmer beginnt es zu knistern …“ (Rosa 2016).

 

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