Pelluchon: Das Antlitz des Anderen ist die Spur des Unendlichen

Pelluchon: Das Antlitz des Anderen ist die Spur des Unendlichen


Der tiefere Sinn der Erziehung ist: Wir werden vom Anderen instruiert über das, was wir selbst sind.


„Die Wertschätzung bezeichnet weder einen Aufstieg noch eine Kontemplation, die uns Zugang zum Wesen der Dinge verschafft, sondern ein tiefes Verständnis der Solidarität, die uns mit den anderen Lebewesen vereint; sie klärt unser Verhältnis zu dem, was um uns ist und zu denen, die mit uns sind. (…) Sie verläuft über die Erfahrung unserer Verwundbarkeit und über die daraus erwachsende vertiefte Kenntnis unserer Selbst. (…) Sie ist die Erfahrung unserer Schicksalsgemeinschaft mit den anderen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen, und sie ist untrennbar von dem Wunsch, für sie Sorge zu tragen und den künftigen Generationen eine bewohnbare Welt zu übergeben (S. 113f.).
In einem anderen Werk [„Pour comprendre Levinas“, noch nicht in deutscher Übersetzung vorhanden] sagt Pelluchon, dass die Beziehung mit dem Anderen mich der Ethik [der Wertschätzung] und dem Unendlichen öffnet, dass der Andere uns tranzendiert, weil es unmöglich sei, von ihm Abstand zu nehmen oder den Anderen zu konditionieren. Das Antlitz des Anderen ist die Spur des Unendlichen, d.h. das Unendliche ist ein Kreuz, das sich nicht in der Macht über den Anderen, sondern in seiner Schwäche zeigt. Seine Gegenwart unterstreicht die Ambivalenz der Beziehung. Den Anderen, der mich stört und den ich eliminieren will, soll ich aber beschützen bzw. wertschätzen. Nicht die Selbstbehauptung, die Eroberung der eigenen Identität eröffnet uns den Sinn der Existenz, sondern die Verantwortung für den Anderen. Dann erhalte ich von dem Anderen das, was ich bin, der Andere lehrt, unterrichtet mich [das ist der tiefere Sinn der Erziehung, wir werden vom Anderen instruiert über das, was wir selbst sind]. Der Ausgangspunkt dieser Erfahrung bin nicht ich, sondern der Andere. Darum handelt es sich um ein Ereignis, eine Begegnung, eine Überraschung. In einem Diskurs, der auch ein Dialog sein kann, zwischen zwei heterogenen, unterschiedlichen Wesen gibt es Unvorhersehbares, was ich überhaupt nicht beherrschen kann und dass dort etwas geschieht, was mich verändert. Ich kann den Anderen nicht vereinnahmen oder ihn reduzieren zu etwas, was ich mir vorstelle. Ich würde dadurch das Unbekannte dem schon Bekannten zuordnen, den anderen mir selbst.  

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