Die Arbeitsbedingungen verbessern
Es gibt nicht wenige, die die Inklusion für gescheitert halten. Zu recht. Die Schulverwaltungen fahren die Schulen an die Wand und sind auf dem besten Weg in eine Bildungskatastrophe, sie verwalten die Bildung kaputt (vgl. Nieda-Rümelin).
Eine hoch geschätzte Kollegin hat in ihrer Klasse (Schuleingangsstufe, 1. bis 3. Klasse) 28 Schülerinnen und Schüler, 6 davon haben Förderbedarf: Lese-Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, emotional-soziale Störung, geminderter Intelligenzquozient, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) und ein Kind mit einem Behindertenstatus. Nur für dieses Kind ist eine Einzelfallunterstützung durch Schulhelfer gewährleistet, wenn der Behindertenstatus nachgewiesen wurde bzw. wenn das Kind „inklusiv aufgestellt“ wurde, für die anderen 5 Kinder ist keine Extrafachkraft vorgesehen, das muss die Kollegin alles selber erledigen.
Für alle Kinder muss sie
- jedes Jahr neu individuelle Förderpläne schreiben (mehrseitiges Formular),
- Fragebögen von 2 bis 3 Seiten für die Diagnose beim Psychologen ausfüllen,
- nach jeder Unterrichtsstunde einen individuellen Nachteilsausgleich ermitteln, um Maßnahmen einleiten zu können, damit das Kind in Zukunft besser dem Unterricht folgen kann,
- Klassenarbeiten individuell je nach Förderbedarf erstellen,
- ein 10seitiges Papier für jedes Kind ausfüllen, das jedes Jahr aktualisiert wird und das Kind bis zum Ende der Schulzeit begleitet,
- Elterngespräche führen,
- Absprachen mit den Kolleginnen und Kollegen sowie dem schulpsychologischen Dienst und sonstigen Behörden halten,
- zusätzliche Konferenzen und Sitzungen besuchen.
Individuelle Förderung bedeutet für jedes zu fördernde Kind eine enorme Extraarbeit!
Nachdem die Kollegin eineinhalb Jahre für jedes Fach neue Schulcurricula geschrieben hatte, weil es neue Lehrpläne gab, musste sie außerdem fachspezifische Klassenarbeiten neu konzipieren – die individuellen Arbeiten für jedes Förderkind kommen oben drauf.
Nach der kopflosen Pisa-Hysterie mit ihren ausufernden Konsequenzen für die Belastung eines jeden Kollegen kommt nun auch noch die Inklusion dazu. Ich bin nicht gegen inklusiven Unterricht, jedoch mit Augenmaß und der erforderlichen Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen nicht zuletzt zum Wohl der Kinder. DAS IST ALLES NICHT MEHR ZU SCHAFFEN! Es bleibt kaum noch Zeit für die eigene Familie. Wer will heute noch Lehrer/Lehrerin werden? Der aktuelle Lehrermangel (über 50% der Grundschullehrer sind sog Lovls bzw. Quereinsteiger mit einer fragwürdigen, wenn nicht mangelhaften pädagogischen Ausbildung) spricht eine deutliche Sprache. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte fallen dem Berliner Schulsenat jetzt auf die Füße. Wann sorgen die Verantwortlichen endlich für eine verantwortungsvolle Schulpolitik und für Entlastung der Kolleginnen und Kollegen, für eine angemessene Bezahlung? Unbedingt müssen die Klassenfrequenzen und die Stundenzahl sowie das Renteneintrittsalter gesenkt werden (kaum ein Kollege, eine Kollegin erreicht es)! Ansonsten wird die Situation noch prekärer zum Nachteil der Kinder und Jugendlichen. „Die Jugend ist unsere Zukunft“ klingt in meinen Ohren wie Hohn. Diesen Spruch kann ich schon nicht mehr hören. Die Schulverwaltung sollte endlich einmal die nicht leichte und verantwortungsvolle Arbeit der Kolleginnen und Kollegen wertschätzen, sie in Ruhe lassen und ihnen vertrauensvoll entgegen kommen. Viele arbeiten über ihr Limit hinaus und versuchen trotz allem dem gesteigerten Aufwand gerecht zu werden.
Veröffentlicht in VBE aktuell 2-3/2019, S. 30 f.