Eine Berliner Grundschullehrerin im Krisenmodus
Erfahrungsbericht einer sehr engagierten Grundschullehrerin
Wie eine Grundschullehrerin die Schulschliessungen in Berlin erlebt
Weil sie über 60 Jahre alt ist, darf sie auch nicht zur Schule gehen, um beispielsweise Notunterricht sicher zu stellen. In diesem Schulhalbjahr gab es nur rund einen Monat Unterricht. Ob Zeugnisse bzw. Beurteilungen geschrieben werden, ist noch nicht klar. In manchen Regionen der Republik gibt es Prüfungsboykotte. Von der Oberschule und vom Gymnasium berichten Kolleginnen und Kollegen, dass die Jugendlichen „so viel Arbeit wie noch nie“ bewältigen müssen. In jedem Fach werden die Aufgaben digital versandt, dann an die Lehrerinnen und Lehrer zurückgeschickt und von ihnen korrigiert, manchmal auch benotet. Die Eltern können nicht helfen, Geschwister geben keine Ruhe, die Schülerinnen und Schüler und ihre gesamte Familie sind überlastet.
Wie bewältigt das eine Grundschullehrerin, die in der flexiblen Schulanfangsphase die beiden ersten Jahrgänge unterrichtet? Sie muss differenzierende Materialien bereitstellen und sich auf unterschiedliche Lernniveaus seit Jahren einstellen (über die zusätzlichen Belastungen wegen der Inklusion schrieb ich bereits in VBE-aktuell 2-3 2019, s. auch unter www.magnifikat.de). Sie ist Montessori-Lehrerin und hat sich glücklicherweise in den vergangenen Jahrzehnten einen Pool von Lernbausteinen aufgebaut, so dass sie oft auf Vorhandenes zurückgreifen kann. Das stellt bereits eine große Erleichterung dar. Jedoch stellt die aktuelle Situation auch sie auf eine harte Probe. Sie arbeitet mehr als vorher, versucht neue Ansätze des selbstständigen Lernens, was bei Schulanfängern eine besondere Herausforderung darstellt. Lesen- und Schreibenlernen geht halt nur unter Anleitung, bei persönlicher Präsenz.
Sie schreibt Wochenpläne, wo alles aufgeführt wird, was neu erlernt und geübt werden soll, kann aber die Eltern nicht überfordern, die den Laptop für ihr Homeoffice brauchen. Da die Kinder noch nicht lesen können, müssen die Aufgaben heruntergeladen und von den Eltern erklärt werden. Ergänzend zum Wochenplan schickt sie zwei- bis dreimal pro Woche an jede Familie eine Email mit Aufgaben für Deutsch, Mathe, Sachkunde und Englisch. Die Unterrichtsbücher, die normalerweise in der Schule deponiert sind, haben die Kinder zu Hause. Oft kommt zu den Aufgaben ein Link aus im Internet recherchierten Aufgaben und Lösungen und ein Rätsel hinzu, was die Kinder gerne lösen. Dann bekommt sie ein positives Feedback auch oft per Telefon: „Ich habe das Rätsel gelöst, hurra.“ Sie kann aber nicht von den Eltern verlangen, die Ergebnisse der Kinder zu überprüfen, geschweige denn diese einzuscannen und sie an die Lehrerin zurück zu schicken. Eine Kontrolle ist in diesen Zeiten nicht möglich. Somit fehlt ihr ein Überblick über den Lernstand jedes einzelnen Kindes. Eine Evaluation entfällt. „Im Kopf bleibt wenig“, sagt sie. Schwieriger werde es in der 3. Klasse und richtig kritisch in der 5. und 6. Welche Auswirkungen die Krise für die zukünftige Schullaufbahn haben wird, ist noch völlig unklar.
Im Gespräch ist eine stufenweise Lockerung der Beschränkungen. Klar ist, dass nicht in ganzen Klassenstärken unterrichtet werden kann. Schichtbetrieb mit Mundschutz, den erforderlichen Abstandsregeln und strengen Hygienevorschriften ist für Kinder der Schuleingangsstufe nicht realisierbar, auch nicht in halber Klassenstärke.
Die Eltern sind dankbar, die Lehrerin schickte ihnen einen Osterbrief. Zur Bewältigung der aktuellen Krisensituation brauchen die Schulen jetzt endlich Unterstützung durch Einstellung neuer Lehrkräfte sowie Betreuungspersonal und Reinungskräften.
Ralf Kennis, Sekundarschulrektor i.R.
www.magnifikat.de
Ralf Kennis
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